Wang Shugang
In seiner neuesten Figurengruppe stellt der in Peking lebende Bildhauer Wang Shugang männliche Personen dar, die mit Qigong-Kugeln oder Vögeln spielen. Die Bronzen schildern eine typische Pekinger-Stadtszene - ein ruhiges, friedliches Bild, welches man morgens und abends in den Altstadt-Strassen von Beijing häufig sehen kann. Der hohe Grad an Realismus in den Bronzen gibt somit ein eher altmodisch anmutendes, jedoch sehr sympathisches Spiegelbild dieser Szenerien inmitten der sonst dominierenden Pekinger Hochgeschwindigkeitsurbanisierung. Im rasanten Aufstieg der chinesischen Hauptstadt – und nicht nur hier - zogen in den letzten Jahren Millionen Menschen in ihren Bannkreis, wurden gigantische Ringstrassen und Wohnviertel angelegt, wich das alte Peking der Hutongviertel mehr und mehr dem neuen, modernen Peking.
Dies hat Auswirkungen auf seine Bewohner, auf die Generationen und das Miteinander. Die Migrantenströme und Umsiedlungen von Millionen führen auch zu radikalen Veränderungen in der Gesellschaft, im sozialen Verhalten und in der Verrichtung der Traditionen und liebgewonnener Bräuche wie das gemeinsame Musizieren und Singen, die Brettspiele, Gymnastik und Sport im Freien.
Für Wang Shugang ist diese täglich zu beobachtende Veränderung eine wichtige Problemstellung, der er sich in seinen Arbeiten immer wieder widmet. Der Konflikt von Tradition und Moderne, der spürbare Verlust von Geschichte und Kultur ist eine dem Menschen Wang Shugang wie seiner Zeitgenossen bisweilen schmerzhafte Erfahrung. Aber es gibt auch interessante Bezüge in die Vergangenheit, da die Entwicklung der Spiel-Kultur im Freien aus dem Ende der Qing-Dynastie ableitbar ist, als überwiegend der enttrohnte Adel sich diesen Tätigkeiten hingab. Diese Schicht hatte genug Geld, um nicht arbeiten zu müssen. Sie konnten sich den Tag in Teehäusern vertreiben, was der in Deutschland studierte Wang mit der Pariser Boheme, wie sie von Walter Benjamin in den 1920er Jahren beschrieben wird, als durchaus sinnstiftende Parallele erwähnt. An den Rändern der attraktiven „In-Plätze“ der Stadt wurde das ungebundene Leben kultiviert und äußerte sich in Dandys und Wichtigtuern, die für den Künstler Wang im Spätstadium einer gesellschafts-politischen Selbst-Kastration gleich kommen: die meist jungen Männer gaben sich völlig dem "Spiel" hin und versanken so immer mehr in der Bedeutungslosigkeit. Gleichzeitig wurden diese Arten des Zeitvertreibs aber nach und nach zu einem typischen Beijinger Phänomen, das man bis heute immer wieder und überall entdecken kann.
Nach der von vielen leidvollen Erfahrungen wie Bürgerkrieg, Revolution, Kulturrevolution und 30 Jahren wirtschaftliche Öffnung reichen Geschichte Chinas, findet man heute oben genannte Tätigkeiten (das Spielen mit Qigong-Kugeln und das Halten von Vögeln) und noch einige mehr nicht mehr in der „Oberschicht“. Sondern es ist mittlerweile genau umgekehrt: es sind die Armen, die Alten, in erster Linie die einfachen Menschen, die im Spiel versunken melancholisch beisammen stehen oder sitzen. Das Prinzip der Dandys, die sich den Tag mit ihresgleichen, oder der „Kumpels“ beim Spiel vertreiben, weil sie es sich leisten können, ist zum Prinzip derjenigen Bevölkerungsgruppe geworden, die sich eben nichts anderes mehr leisten können. Denen die modernen Spiel-Geräte verborgen bleiben. In den neuen, fortschrittlichen Strassen und Gassen der Stadt findet man sie nicht mehr - sie bleiben (zurück) in den alten, gewachsenen Vierteln.
Die Tradition der Vogelhaltung in kleinen, oben gerundeten Käfigen und die Freude an deren Gesang, hat in China eine lange Tradition. Der Vogel steht in China wie in Deutschland für die Freiheit, für ein Gefühl von himmlischem Gesang. Indem man den Vogel kultiviert, versuchen die Menschen demnach, das Schönste an ihm (seinen Gesang) einzufangen. Und zerstören damit aber seine eigentliche Energie und Kraft, denn so versteht es Wang Shugang: durch das Anketten, den Raub der Freiheit, macht man sich letztendlich selbst unfrei! Und in einer negativen Wendung der Deutung der in den Händen ruhenden Qigong-Kugeln, erinnern ihn diese an Masturbation. Den Männern bleibt zum Schluß nichts mehr übrig als sie selbst, unfähig zur Liebe und Freiheit zum Leben, übertragen zum Sinn des Lebens.
Zwei Aspekte zur Rolle des Künstlers und des Individuums in der Gesellschaft sind noch anzumerken. Die Figuren stehen auf Sockeln, was ihren Wert, ihre Position erhöht und als Gruppen, was ihre Zusammengehörigkeit demonstriert. Generell läßt die chinesische Gesellschaft keinen Raum für Individualismus. Ein das soziale Subjekt sehr bestimmender Moment, den Wang Shugang durch die Uniformierung seiner Skulpturen, die ihm auch in bestimmten Merkmalen ähnlich sehen, thematisiert und den Einzelnen in eine Art vereinzelte Gruppe zwingt. Die Identität der Einzelnen ändert sich je nach Betrachtung und ist wie zwei Seiten eines Spiegels lesbar: entweder spiegeln die Figuren den Künstler, oder es ist der Künstler, der die Figuren spiegelt. Sicher ist jedoch, daß Wang ihnen, den armen und alten Ausgegrenzten des neuen China und neuen Peking eine neue Umgebung schafft. Sie werden aus ihrer einfachen und meist „schmuddeligen“ Lebensumgebung in die reine, klinisch weiße Umgebung eines Ausstellungsraumes für Kunst gebracht und damit zum zweiten Mal in eine neue, künstliche Umgebung gestellt.
Bei allen Klischees, Wang Shugang widmet sich dem Menschen, dem Individuum in traditioneller Manier und (ver)zerrt sich zugleich in die Gruppe, in denen die kollektive Ich-Identität aufgehoben ist - im doppelten Wortsinne.
Die Aufmerksamkeit werden die Individuen jedoch an beiden Orten besitzen und benötigen, im harten urbanen realen Alltag Pekings und im von allen Störelementen gereinigten White Cube der Kunstwelt. Diese Aufmerksamkeit wird mehr und mehr notwendig, um eine neue Sicht auf deren und unser Leben wachzurufen.
Gregor Jansen
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